Schon die Karthager ließen mit Bleikugeln schießen
Blinde hören und tasten sich durch die Hannibal-Ausstellung

"Mit diesem Schleuderblei konnten Hannibals Krieger aus 60 Meter Entfernung einen römischen Brustpanzer durchschlagen", erklärt Angelika Zinsmaier vor der Hannibal-Statue im Landesmuseum. Ihre Zuhörer sind beeindruckt - und schon wandert das ovale Geschoss von einer Hand in die andere. Eine Nachbildung? Keineswegs, ein Original! Deshalb tragen die Leute Latexhandschuhe. Aber nicht nur das fällt an der Gruppe auf. Seltsam auch, dass sie den römischen Brustpanzer in der Vitrine, der eine der Hauptattraktionen der Ausstellung ist, regelrecht zu ignorieren scheint. "Hier habe ich ein Stück eines Brustpanzers", sagt Angelika Zinsmaier stattdessen. Und wieder wird ein Stück Geschichte herum gereicht, ertastet und begriffen. Denn: Die Besucher der Hannibal-Ausstellung sind Blinde und Sehgeschädigte.
Dass dafür eine ganz eigene Didaktik notwendig ist, das wissen auch die Museumspädagogen des Landesmuseums. Zusammen mit dem Studienzentrum für Sehgeschädigte (SZS) hat Angelika Zinsmaier, Archäologin und zuständig für die Museumspädagogik der Hannibal-Ausstellung, ein Konzept für Blindenführungen entwickelt. Aber das Angebot ist noch viel zu neu, um schon völlig "rund" zu laufen. "Hier sehen wir...", sagt Angelika irgendwann einmal mitten in der Führung -und merkt erst Sekunden später, wie tückisch Allerweltsfloskeln sein können. Ein anderes Mal spricht sie über die beachtliche Größe der phönizischen Vasen vor einer Vitrine. Joachim Klaus, Geschäftsführer des SZS, unterbricht sie freundlich und sagt: "Geben sie doch bitte die Maße der Vasen an." Ach so, natürlich. Jetzt kann sich auch der Blinde etwas unter der Größe vorstellen.
Andererseits haben Angelika Zinsmaier und ihre Mitarbeiterin Cornelia Kratz einen ganzen Wagen voller Gegenstände zusammen gestellt. Und dieser Wagen enthält neben dem wohlduftenden Zedernholz (damit bauten die Phönizier ihre Schiffe), den Weizenkörnern (die Phönizier waren bei den Römern als "Breifresser" verschrien) und den nachgebildeten Marmor-Intarsien (damit verzierten die Phönizier Möbel) Kostbarkeiten, die kein normal Sehender jemals in die Hand nehmen dürfte: Das oben erwähnte Bleigeschoss und das Brustpanzerstück, aber auch ein "zwei-schnäuziges" Öllämpchen oder ein kleines Väschen, die mal locker 2 300 Jahre alt sind. "Vorsicht, Originale", sagt Cornelia Kratz. Und das bedeutet: Nur mit Latexhandschuhen anfassen.
Zum Glück braucht man für die Gründungslegende von Karthago keine Augen und auch keine Hände. Und wenn die Geschichte von Elissa oder Dido (so nannten sie die Römer) dann auch noch so erzählt wird, wie von Angelika Zinsmaier, dann fühlt sich auch ein sehgeschädigter Mensch nicht benachteiligt. Anders verhält es sich schon mit der genialen Architektur des karthagischen Militärhafens. Ein großes Wandbild und ein anschauliches Modell davor - mit einem Blick erschließt sich dem Sehenden die Genialität und Schönheit des Ganzen. Für die Blinden müsste es dafür spezielle Pläne geben. So wie die Mittelmeer-Spezialkarte mit Höhen und Tiefen, die das SZS gedruckt und ihnen zu Beginn der Führung ausgehändigt hat. Darauf können sie erkennen, dass die Phönizier aus dem heutigen Libanon nach Westen zogen und 814 vor unserer Zeitrechnung Karthago, die neue Stadt, gründeten.
Hannibals Krieger - eine bunte Truppe. Nicht nur wegen der Elefanten. Darunter befanden sich auch die Balearen. Die Inselbewohner waren für ihre zielgenaue Schleuderkunst berühmt-berüchtigt und marschierten in der ersten Reihe. Weshalb schon den Römern die "blauen Bohnen" nur so um die Ohren sausten.

BNN, 9. November 2004, Seite 15 / Michael Nuckel