Overprotecting Parents oder Ich bin Ich - Eltern und Betroffene auf der Suche nach "Normalität" -

Joachim Klaus, Studienzentrum für Sehgeschädigte der Universität Karlsruhe (TH)

Im nachfolgenden Beitrag möchte der Autor seine Beobachtungen im Kontakt mit sehgeschädigten jungen Menschen und ihrer Umgebung wiedergeben.
Im Jahre 1986 hat er einen Modellversuch "Informatik für Blinde" an der Universität Karlsruhe (TH) ins Leben gerufen, der dann 1993 in das "Studienzentrum für Sehgeschädigte (SZS)" überführt wurde. Das SZS ist eine Einrichtung der Fakultät für Informatik, unterstützt und betreut jedoch Studieninteressierte und Studierende aller Fachrichtungen.
Heute studieren Sehgeschädigte in Karlsruhe von Journalismus bis Elektrotechnik, Biologie, Wirtschaftswissenschaften oder Informatik. Die Absolventen haben auf Grund ihrer fachlichen Qualifikation, aber vor allem wegen ihres exzellenten Umgangs mit der modernen Informations- und Kommunikationstechnik verantwortungsvolle Stellen in der Wirtschaft und im öffentlichen Dienst inne.

Beispiel 1:
"Wir haben eine blinde Tochter, die macht im nächsten Jahr Abitur, ist an einer Regelschule. Wir möchten uns über die Studienmöglichkeiten an der Universität Karlsruhe informieren."
Die anrufende Mutter und ich vereinbaren einen Termin, der sich am Kurs-Stundenplan der Tochter orientiert. "Ich habe ihren Stundenplan hier vor mir!" Die betroffene Tochter sei zur Zeit in der Schule.
Zum vereinbarten Termin kommen Vater, Mutter und Tochter, Letztere eingehakt bei der Mutter, durch den etwas engen Eingang mit den vier Stufen wird sie von der Mutter mit verbalen Hinweisen gelotst.
Wir nehmen in unserem Gruppenraum Platz. Die Tochter neben der Mutter, der Vater etwas abseits. Die Mutter führt das Gespräch. Neben der blinden Tochter gibt es einen nicht behinderten jüngeren Sohn, der auf der Realschule ist. "Er lernt nicht so gut, ist eher praktisch interessiert," so der Vater. Die Tochter ist nach der Grundschule in eine Regelschule übergewechselt. "Wir wollten sie in unserer Nähe haben, da ist doch für sie alles vertraut, das Gymnasium ist in unserer Stadt, sie nimmt den Bus. Ins Internat nach Marburg " nein, das wollten wir nicht!"
Meine Hinwendung an die Tochter, jetzt mal über ihre Schule und ihre Interessen in Richtung Studium zu sprechen, übergeht die Mutter und erzählt weiter. "Sie ist eine exzellente Schülerin...., ich bin ja nicht berufstätig... da gibt es viel auch für mich, sie zu unterstützen...Oft hole ich sie von der Schule ab, wenn ich gerade auch in der Stadt bin.... Ich lese ihr Vieles vor....Mit dem Computer, da hilft mein Mann, das verstehe ich nicht.... Ich bin so was wie ihre Freundin, gell....."
"Sie möchte gerne etwas mit Wirtschaft studieren! .... Und Karlsruhe ist auch nicht so weit entfernt, da kann sie auch zum Wochenende immer nach Hause fahren. Sie hat ja auch viele Freundinnen hier!"
Der Vater schiebt ein, dass er ihr den Behindertenarbeitsplatz installiert hat. Am Abend und am Wochenende, da kann er dann immer helfen, wenn ein Rechnerproblem auftritt, auch der Sohn ist ganz schön versiert, was PCs und Programme betrifft.
"Den muss ich immer mehrfach bitten, wenn ich ein Problem habe, schließlich kommt er dann auch, bekommt es auch meistens wieder hin - und sagt, das hättest du aber auch lösen können und geht," ist der erste Beitrag der Tochter.
Ich informiere über die Studienangebote der Universität - schiebe auch das Angebot der FH Karlruhe im Bereich Wirtschaftwissenschaften mit ein, werde jedoch abrupt gestoppt, es solle schon ein Universitätsstudium sein - und erläutere die Arbeit des SZS. Die Broschüren nimmt der Vater in die Hand: "Wir werden zu Hause alles mal durcharbeiten." Der Hinweis, dass alles auch im Internet ist, auf der Homepage der Universität bzw. des SZS geht - zumindest was die verbalen und non-verbalen Reaktionen der drei betrifft - wohl unter. Die Mutter hilft der Tochter in die Jacke, die sie die ganze Zeit auf ihrem Schoß hatte.
Mit vielen Dankesworten gehen wir auseinander, "wir werden uns wieder melden" - ich drücke die zurückhaltende Hand der Tochter und mache ihr Mut, mich auch von sich aus mit Fragen, die ihr kommen, telefonisch oder per e-mail in Verbindung zu setzen.

Beispiel 2:
Ein Telefonanruf im SZS: "Ich bin Studentin an der Universität X, habe Soziologie begonnen, das gefällt mir überhaupt nicht, was die hier machen und unterstützt werde ich überhaupt nicht. Ich möchte zum nächsten Semester nach Karlsruhe überwechseln. Was gibt es denn da" Und das SZS? Was machen die für Blinde? Kann ich mal vorbeikommen? Morgen? Geht es da bei Ihnen, ich hätte am Nachmittag Zeit!?
Ich lasse mich von der Dynamik meiner Gesprächspartnerin beeindrucken und biete 16.00 Uhr am folgenden Tag an. Am nächsten Tag klingelt es - eine Viertel Stunde Verspätung: Mit ihrem Stock stochert eine junge Frau, wohl Mitte 20, vor unserer Eingangstür, wendet sich nochmals um und bedankt sich bei einem jungen Mann - "Den habe ich am Bahnhof angesprochen, wo die Uni ist, da hat er mich bis hierher gebracht!" - und folgt mir unmittelbar in mein Arbeitszimmer. Den Rucksack stellt sie neben sich ab, klappt ihren Stock zusammen und sprudelt los, den Blick der verdunkelten Brille beständig auf mich gerichtet.
"Ich habe Ihnen ja schon Alles am Telefon gesagt, ich möchte nach Karlsruhe gehen, hier weiterstudieren - was im geisteswissenschaftlichen Bereich. Kann man das hier?"
Ich lege ihr die eingeschränkten Möglichkeiten der technisch ausgerichteten Karlsruhe Universität in diesen Studienrichtungen dar. Enttäuschung bei meinem Gegenüber: "Können Sie mich auch in X unterstützen? Mir die Literatur übertragen? Was machen Sie denn so überhaupt für Blinde?"
Mir fällt ein, dass wir wenige Tage später unsere 3-tägige Orientierungsphase für Studieninteressierte durchführen. Da wird auf all diese Fragen eingegangen. Ich biete ihr an, sich doch für diese Veranstaltung anzumelden. Was dann noch an Fragen offen bleiben sollte, kann man dann ja im Einzelgespräch noch klären. Sie reagiert verhalten: "Ich weiß nicht, ob ich da Zeit habe, aber vielleicht komme ich am Montag, das kann man doch, nur an einem Tag teilnehmen, oder?"
Ich erläutere das Konzept der O-Phase, dass auch die Kontakte mit anderen Sehgeschädigten Studieninteressierten und vor allem mit Studierenden an der Universität unschätzbaren Wert für sie haben könnten. Gerade die abendlichen informellen Treffen sind dafür vorgesehen. Sie reagiert erneut verhalten. Wir verabschieden uns.
Am Montag, dem Beginn der O-Phase, erscheint sie eine halbe Stunde zu spät. Gegen Mittag ist sie nicht mehr zu sehen, seitdem hat sie sich nie mehr im SZS gemeldet.

Zwei Beispiele, sicher einigermaßen polare Lebens- und Verhaltenssituationen:
auf der einen Seite der stabile zeitunabhängige gewachsene Verantwortungsblock von Eltern für ihr Kind - vielleicht unterschwellig mit einem Akzent von Schuldbewusstsein, von verstärkter Verpflichtung sich selber und ihrer Umwelt gegenüber -
andererseits eine Person, die sich von aller Protektion, von allen Schutzwällen gelöst hat, eigenverantwortlich in die Welt hinaustritt, die aber gleichzeitig die jeweils von ihr geschaffene Umgebung nutzt und zu adäquaten Leistungen herausfordert - zeitliche und inhaltliche Dimension dazu bestimmt sie allein.
Sicher ist es schwer und auch nicht zulässig, Wertungen zu beiden Mustern auszusprechen, besserwissend dem einen oder anderen Aspekt objektive Verhaltensmuster entgegen zu halten. Es gibt sie nicht! Das menschliche Zusammenleben bietet kein Rezept: Geborenwerden, Heranwachsen, und Selbstständigwerden sind von Kriterien bestimmt, die sich weitgehend allgemein gültigen Maßstäben entziehen. Die Umgebung, so damit kon-frontiert wird, erlebt das momentane Bild und reagiert, auch wieder mehr oder weniger in subjektiver Spontaneität.
Dennoch, unser Gemeinschaftsleben hat gewisse Regularien entwickelt, fordert von ihren Mitgliedern deren Beachtung und reagiert unterschiedlich direkt und nicht selten auch nachhaltig bei diskrepanten Verhaltensweisen. In diesem Sinne ist es Aufgabe von Ein-richtungen dieses Gemeinwesens, entsprechend ihrem gesellschafts- und bildungspolitischen Auftrag eine gewisse stabilisatorische Funktion einzunehmen, richtungsweisend zu sein, immer jedoch auch sich an ihrer Inanspruchnahme und deren Anforderungen zu hinterfragen und weiterzuentwickeln, damit aber auch ein ständiges Feedback für den Einzelnen wie die Gruppe, hier z.B. die Familie, zu sein.
In diesem Kontrastfeld von persönlichem Hintergrund und objektiver Richtungsweisung ist auch die Gesprächssituation beider Szenarien zu sehen. Vorgegebenes aufnehmen, erst einmal als Faktum akzeptieren und mittels des kommenden Lebensentwurfes die eine oder andere Herausforderung zur kritischen Selbstreflexion anzubieten. Mehr als ein Angebot kann es nicht sein, die betroffene Person entscheidet, was sie davon auf sich zukommen lässt, wie viel davon und wann. Eltern fühlen sich dabei sicher in ein ganz anderes Abhängigkeits- und Entscheidungsnetz verflochten.

Bezogen auf die Förderung und Unterstützung von sehgeschädigten jungen Menschen bei ihrer Lebens- und Berufsplanung nach Abschluß einer höheren Schulbildung hat das Studienzentrum für Sehgeschädigte der Universität Karlsruhe (TH) ein Konzept entwickelt, das drei Zielsetzungen impliziert:

  • Förderung der persönlichen Entscheidungsfähigkeit
  • Schaffung von Rahmenbedingungen selbständigen Lebens, Lernens und Arbeitens
  • Integration in die studentischen Alltagswelt als Modell und Vorbereitung auf spätere eigenverantwortete Berufssituationen

Das Organigramm des Studienzentrums für Sehgeschädigte (SZS) zeigt das holistische Konzept mit den diesen Lebensweg begleitenden drei Säulen:


Studienvorbereitende Maßnahmen

  • Bundesweite Orientierungsphase für Studieninteressierte
  • Mobilitätstraining
  • Planung individueller Arbeitsplatzausstattung
  • Einweisung in die Technik
  • Unterstützung bei der Studienplanung

Studienbegleitende Maßnahmen


  • Aufbereitung der Studienliteratur
  • Unterstützung in Lehrveranstaltungen und bei Prüfungen
  • Förderung von Auslandsstudium
  • Durchführung regelmäßiger Semestertreffen (Studierende, Dozenten, Tutoren)
  • Angebot sozialer Netzwerke (MoDe, Mailinglisten)

Berufsvorbereitende Maßnahmen

  • Bundesweite Orientierungsphase für Studierende und Absolventen
  • Unterstützung bei Betriebspraktika im In- und Ausland
  • Kontakte zur Arbeitgebern (Industrie / Öffentlicher Dienst)

Dabei nimmt die "Bundesweite Orientierungsphase für Studieninteressierte" einen zentralen Raum ein. Ihre Botschaft ist: alle Studienmöglichkeiten stehen auch Sehgeschädigten erst einmal offen. Ziel ist es dann, den Teilnehmenden so viel Informationen wie möglich zu geben, um aus diesen Angeboten eine eigenverantwortete objektivierbare Entscheidung treffen zu können. Dabei werden die betroffenen Hochschullehrer und ältere Studierende - vor allem sehgeschädigte - und sonstige Verantwortliche in die Veranstaltung mit einbezogen. Die folgenden Themenblöcke werden behandelt:

  1. Universitäts- und Fachhochschulstudium für Blinde und Sehbehinderte
    • Möglichkeiten, Bedingungen und Anforderungen für Blinde und Sehbehinderte
    • Konzeption und Dienstleistungen des Studienzentrum für Sehgeschädigte (SZS)
  2. Studentisches Wohnen in Karlsruhe
  3. Technische Ausstattung: individuelle studentische Heimausstattung
  4. Finanzierung der persönlichen Heimausstattung
  5. Mobilitätstraining für blinde Studienanfänger
  6. Die Universitätsbibliothek - Service für sehgeschädigte Studierende
  7. Besichtigung ausgewählter Vorlesungen, Institute und Labors

Jeder sehgeschädigte Studienanfänger an der Universität Karlsruhe (TH) durchläuft von Semesterbeginn ein Mobilitätstraining, erhält eine seiner Behinderung entsprechende Arbeitsplatzausstattung und die dazu notwendige Einweisung. Im Studium selbst werden alle Materialien (Vorlesungsskripte, Folien, Lehrbücher etc.) in eine blindengerechte elektronische Form übertragen, fachliche Anforderungen im Studienplan gegebenenfalls verändert und Prüfungsmodalitäten angepasst. Im Hauptstudium ist ein längeres Praktikum in der Industrie oder im Öffentlichen Dienst eingeplant, um Berührungsängste auf beiden Seiten abzubauen und den Übergang ins Berufsleben vorzubereiten.

Schließt man den Bogen zu den beiden Fallbeispielen, dann könnte sich die Schlussfolgerung aufdrängen, da wird ja alles wieder aufgefangen und in geregelte Bahnen gelenkt. Sicher nicht, denn diese Plattform ist offen und es liegt in der Freiheit eines jeden Einzelnen, sie zu betreten und darauf den eigenen Lebensentwurf zu zimmern.
Ein jeder verbleibt in seiner Verantwortung: Eltern, Umfeld und Betroffene - und ein jeder kann nur im offenen Miteinander voneinander lernen.